“Wir müssen den Briten mehr Zeit geben“ - Main contents
Nach dem Brexit steht Europa am Scheideweg. Doch wie viel Europa wollen wir? Und was für ein Europa soll es sein? Diesen Fragen geht die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit bei ihrer Europäischen Zukunftskonferenz am 8. Dezember 2016 auf den Grund. Hans van Baalen, Vorsitzender der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), über den Impuls, den der Kongress setzen kann, und die Perspektiven des Kontinents.
Welche Auswirkung hat der Austritt Großbritanniens aus der EU auf die europäische Integration?
Keiner weiß, welche Konsequenzen der Brexit nach sich ziehen wird. Ich glaube aber, dass es auch gar nicht so weit kommen muss. Es war ja nur eine kleine Mehrheit der Wähler, die sich in einem nicht bindenden Referendum für den Austritt aus der EU ausgesprochen hat. Meine Vorhersage ist, dass die Briten Artikel 50 nicht in Gang setzen, sondern stattdessen Neuwahlen oder ein zweites Referendum ausrufen werden. Darum müssen wir ihnen Zeit geben und nicht zu viel Druck ausüben. Denn die Gefahr eines Dominoeffekts be-steht — vor allem dann, wenn Großbritanni-en im Zuge des Verhandlungsprozesses eine Sonderbehandlung bei der Arbeitnehmer-freizügigkeit zugestanden wird. Das könnte in anderen Ländern Begehrlichkeiten wecken und eine Dynamik antreiben, die nur Verlierer kennt.
Droht Europas Wirtschaft nach dem Brexit global gesehen an Bedeutung zu verlieren?
Europa würde vor allem sicherheitspolitisch an Bedeutung verlieren, denn in diesem Sinne ist Großbritannien immer noch eine Großmacht. Wirtschaftlich ist der Verlust der zweitgrößten Volkswirtschaft in der EU natürlich auch bedeutend. Doch haben die Briten im Falle des Austritts mehr zu verlieren. Der Finanzmarktplatz London etwa würde in seiner Position erheblich geschwächt. Davon können Städte wie Frankfurt, Paris und Amsterdam profitieren.
Europa muss sich nun neu aufstellen. Manche wünschen sich sogar, es möge sich neu erfinden. Bietet der notwendige Umbau der EU auch Chancen?
Ja. Es gibt viele EU-Mitglieder, darunter die Niederlande, die den europäischen Födera-lismus ablehnen. Es ist nicht gewollt, dass alle Macht von Brüssel ausgeht. Darum muss die EU jetzt die Gelegenheit ergreifen, sich auf die wichtigen Themen der Zusammenar- beit zu beschränken: Wirtschaft, Flüchtlings- bewegung, Terrorismusbekämpfung und Sicherheit. Warum wollen die Briten gehen? Weil sie das Gefühl hatten, „überfremdet“ zu werden. Ich teile dieses Gefühl jedoch nicht. Doch so ist die Stimmungslage. Die EU muss darum konsequent ihre Grenzen schützen und eine strenge, aber humane Flüchtlings-politik verfolgen.
Der Brexit und der wachsende Populis-mus in Europa sind vor allem ein Zeichen der Entfremdung der Bürger gegen-über der EU und ihren Institutionen. Gibt es einen Weg aus der Vertrauenskrise?
Ich war kürzlich bei der Rede „State of the Union“ von Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, zugegen. Darin ging es nur um Kleinigkeiten und um Juncker selbst. Dafür darf niemand Applaus erwarten. Die Bevölkerung liebt keine Insti-tutionen, keine Technokraten und leere Reden. Sie will Resultate! Wenn wir prakti-sche Lösungen anbieten, dann sehen die Menschen, dass Europa funktioniert. Und dann können die Populisten uns auch nichts anhaben.
In Europa gibt es derzeit sieben liberale Regierungschefs. Einige liberale Parteien wie Nowoczesna in Polen oder Ciudada-nos in Spanien befinden sich deutlich im Aufwind. Welche Rolle können und sollten die Liberalen Europas für die Zukunft der EU spielen?
Wir sind mit ALDE zurzeit die viertgrößte Gruppierung im Europäischen Parlament und sehr optimistisch, dass wir stärker die genannten positiven Beispiele. Ich bin auch überzeugt, dass die FDP zurück in den Bundestag und ins Europäische Parlament finden wird. Der Durchbruch in Deutschland ist ganz entscheidend dafür, dass wir Libera-len in Europa mehr Einfluss ausüben und mitbestimmen können.
Welchen Beitrag kann eine Zusammen-kunft wie die am 8. Dezember in Berlin stattfindende Europäische Zukunftskon-ferenz für die Gestaltung eines Europas der Freiheit leisten?
Sie kann dazu beitragen, die Geschlossen-heit in der liberalen Familie zu stärken. Wir Liberalen müssen einander mehr unterstüt-zen und etwa Erfahrungen aus den Wahl-kämpfen austauschen. Der kanadische Premier Trudeau hat uns gezeigt, wie man Wahlen gewinnt: indem man die neue Generation mobilisiert. Die Mehrheit der Jungen — auch in Großbritannien — ist für Europa. Sie gehen aber nicht zur Wahl. Wir müssen also darüber reden, wie wir die junge Generation politisch stärker interessie-ren und beteiligen können. Ich wünsche mir darum, dass sich die liberale Spitze auch bei der Europäischen Jugendkonferenz einbringt, die im Anschluss stattfindet.
Liberal Magazine, pagina 28 - 29